Gail Mc Cutcheon

Mein Herz lacht, wenn ich laufe!

„Mein Herz lacht, wenn ich laufe!“ Es war ein langer und beschwerlicher Weg, bis Gails vierjähriger Sohn diesen Satz fröhlich ausrufen konnte. Vier Tage nach seiner Geburt hatten die Ärzte ein Herzgeräusch festgestellt und anstatt mit dem Neugeborenen nach Hause zu gehen, fuhr die Familie direkt in die Kinderkardiologie. Das Untersuchungsergebnis veränderte ihr Leben: Ihr Sohn war mit einem schweren, angeborenen Herzfehler zur Welt gekommen. Er wurde im Alter von sechs Wochen operiert, weitere Operationen sollten folgen. Die folgenden Jahre waren für Gail geprägt von Ängsten und Sorgen: „Alles war eine Gefahr für sein Leben, egal wo ich hinschaute. Er sollte keinen Infekt bekommen, nicht hinfallen, wir konnten nicht in die Krabbelgruppe und er durfte wegen der großen Belastung nicht weinen, weshalb ich nachts bei jedem kleinen Laut an seinem Bett stand. Ich hatte Angst, dass er aufhört zu atmen. Das alles hat mich fertig gemacht.“ Gail, früher eine selbstbewusste und zielstrebige Frau verändert sich. Sie nimmt kaum noch am sozialen Leben teil, sie wird depressiv, fühlt sich hilflos und verloren. Sie erreicht einen Punkt, an dem sie sich selbst nicht mehr erkennt: „Ich hatte mich selbst verloren, das war schlimm.“

Jeder Laufschritt war ein Schritt zurück in mein Leben

Als ihr Sohn vier Jahre alt wird und die letzte Operation gut hinter sich gebracht hat, fährt die ganze Familie auf Kur in die Nachsorgeklinik in Tannheim, die Familien mit Krebs-, Herz- und Mukoviszidose kranken Kindern eine vierwöchige Rehabilitation anbietet. Inzwischen hat Gail eine Tochter bekommen, die zu diesem Zeitpunkt 2 Jahre alt ist. Diese Kur ist für Gail der Start zurück ins Leben. Sie lernt andere Eltern von kranken Kindern kennen und hat endlich jemanden gefunden, „der einen verstanden hat“. In Tannheim kümmert man sich auch um die Eltern der kranken Kinder und langsam erholt sich Gail hier von den Strapazen der vergangenen Jahre. Zurück zuhause, beginnt Gail mit einer Freundin zu laufen. „Wir haben es dann geschafft, an einem 10-Kilometer-Lauf teilzunehmen, und irgendwann kam das Wort Marathon ins Spiel.“ Gail trainiert hart und meldet sich für den New York Marathon 2012 an: „Es hat mich schier umgebracht, aber ich habe es total diszipliniert durchgehalten. Der Marathon war mein Ziel und ich wusste, wozu ich das mache: Ich wollte mein Leben wieder in den Griff kriegen.“ Das war das eine. Hinzu kam ein Gefühl der Dankbarkeit. Ihrem Sohn ging es nach den Operationen gut und Gail wollte mit dem Laufen Spenden sammeln für die Klinik in Tannheim. „Ich bin Engländerin und in England läuft man keine 5 Kilometer ohne Spenden zu sammeln. Jedes kleine Dorf kennt dort diese Spendenläufe. Beim großen London-Marathon kommen jedes Jahr rund 80 Mio Pfund zusammen.“  In Deutschland war es nicht ganz so einfach. Aber Gail verkaufte dann zusätzlich Kaffee, Kuchen und selbstgenähte Kinderklamotten und sammelte so 60.000 € Spendengelder ein. „Mein Herz lacht, wenn ich laufe!“ nannte sie die Spendenaktion.

Gail flog dann Ende 2012 zum Marathon nach New York. Ein Hurricane verwüstete damals die Stadt und der Marathon wird abgesagt. Im November 2013 kommt sie mit einer Freundin zurück und erfüllt sich ihren Traum. In den Jahren danach läuft sie verschiedene Marathon: „Jeder Laufschritt war ein Schritt zurück in mein Leben. Und je mehr ich gelaufen bin, desto besser ist es geworden. Beim Laufen hast du Zeit für dich, frische Luft und Zeit zu denken. Das Laufen war meine beste Therapie.“ Die Kombination mit dem Spenden sammeln hat Gail ihr Selbstbewusstsein zurückgegeben. Sie fühlte sich nicht mehr hilflos, sondern „groß und stark“. Sie lief Marathon und half anderen, die hilflos waren.

Die Bedürfnisse der Eltern sehen

Aus der Spendenaktion und dem Wunsch, wieder zu arbeiten und etwas Sinnvolles zu tun, entstand die Selbsthilfe-Community „Mein Herz lacht“, die es inzwischen seit 2019 gibt.  „Das was mir passiert war, passiert tausenden anderen Eltern. Und meine Idee war, eine Plattform aufzubauen, um ihnen zu helfen und sie zu unterstützen, auf ihre eigenen Bedürfnissen und Interessen zu achten. Und ich wollte sie ermuntern, parallel auch etwas Gutes zu tun, Spenden zu sammeln oder sich in einem Ehrenamt zu engagieren.“ Gail bewarb sich in Stuttgart beim Social Impact Lab, einem Gründerzentrum für Social Entrepreneurship. Sie wird in das Programm aufgenommen und acht Monate lang unterstützt, gecoacht und beraten, um ihre Grundidee zu konkretisieren. Das Ergebnis ist eine Kombination aus einer klassischen Selbsthilfegruppe und digitaler Selbsthilfe auf einer eigenen Plattform, über die sich Eltern chronisch kranker oder behinderter Kinder vernetzen können. „ Es geht bei uns um die Bedürfnisse der Eltern, unabhängig von der jeweiligen Krankheit des Kindes. Es geht um mich als Mutter und diese Todesangst um mein Kind, die verbindet mich mit den anderen, die Pflege meines Kindes und was diese Krankheit mit meinem Leben und meiner Familie macht, das verbindet, unabhängig davon, ob mein Kind Krebs hat, herzkrank ist oder eine andere Behinderung hat. Ich vernetze eine Gruppe von Familien, die in der gleichen Stadt oder der gleichen Region leben und die sich schnell spontan besuchen oder Unterstützung leisten können. Und wir als Verein organisieren regelmäßige Aktivitäten, was mit Corona natürlich ein bisschen schwierig geworden ist, wo sie zusammenkommen, sich kennenlernen und Vertrauen aufbauen können.“ Mein Herz lacht bietet darüberhinaus Webmeetings an, mit Vorträgen von Expert:innen, in denen sich Eltern informieren und austauschen können. Zusätzlich hat der Verein eine Beratungsstelle, die von einer Kinderkrankenschwester und Pflegeberaterin geleitet wird, die Eltern bei der Beantragung von Pflegediensten, Fragen der Krankenkasse und anderen bürokratische Arbeiten unterstützt. Gail: „Wir schenken Zeit, indem wir diesen Aufwand übernehmen.“ Mein Herz lacht nimmt auch Teil an Podiumsdiskussionen und kooperiert mit anderen Organisationen, denn Gail ist es wichtig, Öffentlichkeit zu schaffen: „Die Eltern sollen zu Wort kommen und gesehen werden. Das Problem ist, dass sie oft nur als Mutter oder Vater eines kranken Kindes wahrgenommen werden. Sie haben keine eigene Identität. Einige unserer Mitglieder haben in ihrem Leben nichts außer der Sorge um das kranke Kind und seine Pflege. Diese Liebe für das Kind und die ganze positive Energie, die das mit sich bringt, das ist einzige Quelle, die sie haben. Aber das Leben ist viel mehr. Wir versuchen, ihnen zu zeigen, dass das wichtig ist und dass es ohne das nicht geht. Viele Mütter haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie einmal einen Abend tanzen gehen oder eine Freundin treffen, sie haben Angst, dass ihrem Kind genau dann etwas passieren könnte, und sie dann eine schlechte Mutter wären. Wir versuchen sie davon zu überzeugen, dass es für alle hilfreich ist, wenn sie etwas für sich tun.“

Sich fallen lassen und verstanden werden

Der Verein möchte sein Projekt nun auf weitere Bundesländer ausweiten und hat dafür im Januar 2021 ein Stipendium von der Stiftung Bürgermut bekommen. Gail hat mit diesem Job ihre Berufung gefunden. Alles, was sie privat und beruflich gelernt hat, kann sie hier miteinander verbinden und so dazu beitragen, dass die Community Stück für Stück wächst. „Ich weiß, wie ich den Eltern helfen kann und ich bin bestens vernetzt, um ihnen auch dann weiterzuhelfen, wenn ich selbst es nicht kann.“ Das Feedback der Eltern ist sehr gut. Sie fühlen sich bei Gail gut aufgehoben, hier können sie sich fallen lassen und ihre Probleme werden ernst genommen und verstanden. Gails Arbeit wird wertgeschätzt. Für ihr eigenes Wohlergehen muss sie darauf achten, eine Grenze zu ziehen zwischen ihrem privaten Leben und ihrem Engagement, denn „die Geschichten, die mir begegnen sind sehr emotional und sehr heftig. Die Eltern müssen sich bei mir nicht verstellen und sie trauen sich, unausgesprochene Sachen zu sagen, die sie außerhalb unserer Gruppe nicht sagen würden.“

Das Laufen ist ihr ein wenig abhanden gekommen, „der innere Schweinhund gewinnt öfter“, sagt sie und lacht, „ich weiß, dass mir das Laufen gut tun würde und sollte das wieder mehr in den Fokus rücken.“ Immerhin hat sie seit einem Jahr einen Hund, und mit dem muss sie auf jeden Fall raus…

http://www.meinherzlacht.de