Anne Bauer

Das beste Alter ist jetzt

Foto: Olaf Wiehler

Der 6. April 2017 war der Tag, an dem sich Annes Leben verändern sollte. An diesem Tag „wurde ich ein Jahr älter, meine Mutter plötzlich Rentnerin und verstarb meine Großmutter“. Und ohne, dass sie es damals schon ahnte, begann an diesem Tag das Abenteuer von eigenleben.jetzt.

Zunächst war es ihre Mutter, die Anne um Hilfe bat. Sie hatte keine Lust als frische Rentnerin nun nur noch für ihren Mann zu kochen und die Enkelkinder zu  versorgen. Sie wollte das tun, worauf sie ihr Leben lang schon Lust hatte und wozu sie nie die Zeit gefunden hatte: Sie wollte schreiben. Anne erinnert sich: „Meine Mutter wollte silver Bloggerin werden und bat mich, ihr einen Blog einzurichten. Sie hatte gehört, dass manche Influencer vom Bloggen sogar leben können und dachte, sie könne sich damit eine zweite Existenz aufbauen.“

Anne ist von Beruf Grafikerin und hat Jahrzehnte lang anderen geholfen, mit ihren Projekten sichtbar zu werden: vom kleinen Kramerladen nebenan bis zum internationalen Konzern, egal ob Print oder online. Anne war klar, dass das mit dem Bloggen nicht ganz so einfach ist: „Ich habe meiner Mutter erklärt, dass es nicht reicht, schön zu schreiben. Man muss im Internet auch gesehen werden und das ist als Einzelkämpfer fast unmöglich.“ So entstand die Idee, sich mit anderen Kreativen um die 60 zusammenzutun. Anne kannte aus dem Sport einige ältere Damen, die aus Kreativbranchen kamen, aus der Musik, der Kunst und dem Journalismus. Sie hat sie angesprochen und gefragt, ob sie Lust hätten gemeinsam „einen Blog zu machen von Menschen ab 60, für den man dann auch gemeinsam Marketing machen kann.“ So entstand eigenleben.jetzt, ein online-Magazin „aus bunt gemischten Beiträgen von und über junge Leute von gestern, geschaffen für die Älteren von morgen. Werbefrei und unabhängig.“, wie es auf der Homepage heißt. Anne: „Wir sind im März 2018 online gegangen und schon ein Jahr später sind wir nominiert worden für den Grimme Online Award. Das zeigt, dass die Idee richtig war.“

eigenleben.jetzt ist ein Projekt der Marli Bossert Stiftung e.V. Anne hatte ihren Anteil vom  Nachlass ihrer Großmutter, in jungen Jahren Marli genannt, verwendet, um den gemeinnützigen Verein zu gründen: „Ihre Lebensenergie und ihre Zuversicht soll in diesem Verein weiterleben.“

Im Ruhestand aber nicht ruhig gestellt

Bald wollten sich all diejenigen, die für eigenleben.jetzt online aktiv waren, persönlich kennenlernen und so hat Anne begonnen, regelmäßige Treffen in Cafés und Kneipen zu organisieren, die sie auch über das Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de angekündigt hat. Anne erinnert sich: „Da kamen auch Viele, die nicht kreativ waren, aber Lust hatten sich mit anderen interessanten Menschen zu treffen.“ Bei den monatlichen Treffen entstanden viele Themen und Projekte, es kamen immer mehr Leute dazu und so entstand der Wunsch nach einem eigenen Raum: ein Café, wo die jungen Leute von gestern die Gastgeber sind! Über ein Jahr suchte Anne nach Räumlichkeiten für ein Café in München. „Ich dachte schon, es soll nicht sein.“ Dann kam Corona und es war gut, dass der Verein noch keine Miete zahlen musste. Mittlerweile ist der Raum für das Café gefunden, die Planungen laufen, und wenn alles gut geht, kann es im Frühsommer eröffnet werden. Corona ist zwar leider noch nicht vorbei, aber die Club-Mitglieder sind mittlerweile dank Annes Einsatz und Mühe alle mehr oder weniger Internet-fest. Bis das Café die Türen für Gäste öffnen kann, könnte von dort das ein oder andere stattfinden, was dann direkt in das eigenleben Netzwerk übertragen wird – in den eigenleben.Club, der seit Beginn der Pandemie die Menschen immerhin virtuell verbindet.

Überrascht hat Anne, dass sich so viele junge Leute für eigenleben interessieren. „Das war mir so nicht klar. Ich dachte, ich mache etwas, damit die Älteren miteinander in Kontakt kommen können, außerhalb von Seniorentreffs und ähnlichen Einrichtungen. Etwas mit kulturellem und intellektuellem Anspruch. Aber woran ich nicht gedacht habe, ist, dass so viele junge Leute das Projekt toll finden, weil sie dadurch in Kontakt mit den Älteren kommen.“ Großeltern leben oft weit entfernt und es gibt in unserer Gesellschaft wenige Möglichkeiten, wo sich die Generationen entspannt begegnen können. Anne: „Die Jungen machen sich ihre Gedanken und fragen sich, was passiert mit mir selbst, wenn ich älter werde, wie wird meine Zukunft aussehen. Die Vergänglichkeit wird den jungen Leuten heute schon relativ früh bewusst und da gibt es viele Ängste. Es kann tröstend sein, von den Älteren mitzukriegen, dass es schon immer Krisen gab und existentiell bedrohliche Situationen und dass man trotzdem ein gutes Leben führen kann, alt und glücklich werden kann.“ Außerdem stärkt es das Selbstwertgefühl, wenn man Menschen helfen kann, die schon mehr Erfahrung haben. 

Antiquierte Altersbilder zurechtrücken

Auch den Älteren ist der Austausch mit den Jungen sehr wichtig: „Dieser Austausch auf Augenhöhe motiviert, auch dass man voneinander lernt und profitiert.“ Die Älteren sind im Ruhestand, aber ruhig gestellt werden wollen sie nicht. „Das beste Alter ist jetzt“ heißt es auf der Webseite und wenn man sich die Bandbreite der eigenleben.jetzt Artikel anschaut, die vielen Angebote und Aktivitäten des eigenleben Clubs, dann glaubt man das sofort. Anne koordiniert das Ganze, was keine leichte Aufgabe ist: „Alles wird immer größer und ich versuche den Überblick zu behalten. Ich jongliere die Bälle. Das Wichtigste ist offen zu bleiben und bei Impulsen von außen genau hinzuschauen.“ Der Club wächst, mittlerweile sind es über 160 Mitglieder weit über Münchens Grenzen hinaus und da will Jonglieren gelernt sein. Zumal der Club sehr lebendig ist und sich immer wieder „Dinge entwickeln, die man nicht vorhersehen kann“. So ist das eben, wenn Dinge ihr Eigenleben entwickeln…

Der große Meilenstein 2021 wird die Eröffnung des eigenleben Cafés sein. Sobald die Corona-Situation es ermöglicht, soll es auch die online Angebote im Café geben. Geplant sind Workshops, Barista-, Koch- und Backkurse, Vorträge, Degustationen, Gesprächsrunden, Sprachcafés, Spieletreffs, Lesungen, Konzerte u.v.m. Für Anne ist das Café eine zusätzliche Herausforderung. Es wurde dafür extra die eigenleben gemeinnützige GmbH gegründet, deren Geschäftsführerin sie nun ist. Im Café „eigenleben – Kultur, Kurse & Küche wie früher“ wird es genug Arbeit geben, nicht nur für Anne. So sollen sich hier auch Menschen um die 60 als Minijobber noch etwas hinzuverdienen können.

Die eigenleben-Projekte haben Annes Leben von Grund auf verändert: „Ich mache das sieben Tage die Woche. Alles dreht sich darum. Von allen Seiten kommt etwas und man muss dauernd flexibel sein.“ Als Grafikerin arbeitet sie kaum noch, dafür bleibt keine Zeit. Hat sie sich das so vorgestellt? „Nein, nie im Leben. Ich dachte, man könnte ein schönes online Magazin machen, dann vielleicht Werbung dafür machen und ein bisschen was verdienen, um die Kosten aufzufangen, aber mehr als Hobby. Das hat sich alles geändert durch die Nominierung zum Grimme Online Award. Da war klar, jemand muss die Social Media betreuen und PR machen. Die Nominierung war auch eine Verantwortung, diese Qualität weiterzuführen und es war klar, dass diese Anerkennung eine Riesenchance ist.“ Mittlerweile bekommen die eigenleben-Projekte auch Fördergelder, u.a. vom Sozialreferat und dem Kulturreferat der Stadt München. 2020 hat die virtuelle Community eigenleben.Club den Bürgerpreis des Bayerischen Landtags bekommen. Für Anne ist das ein klarer Auftrag: „Mittlerweile unterstützen uns so viele Menschen und finden gut, was wir machen, da kann man eigentlich nur weitermachen.“

Anne ist an und mit eigenleben gewachsen, aber „es ist auch alles sehr schnell gegangen. Ich muss mich damit auseinandersetzen, dass ich nicht mehr die Grafikerin bin, die etwas mit Maus und Tastatur produziert und dafür bezahlt wird, sondern dass ich jetzt ein Unternehmen mit mehreren Abteilungen manage. So sehe ich mich selbst gar nicht. In diese neue Rolle muss ich noch hineinwachsen.“

Sie wird diese Herausforderung meistern, denn ihr Engagement ist groß. Annes Traum ist es, „dass wir uns als Gesellschaft noch mehr zusammentun, dass wir statt Unterschieden die verbindenden Elemente sehen und ein starkes Netzwerk bilden mit großer Reichweite und genug Einfluss, um gesellschaftliche Probleme angehen zu können.“ Ein wichtiges Thema ist dabei für sie das Wohnen. Anne ist überzeugt davon, dass sich in der Stadtplanung etwas ändern muss. Wenn in München in den nächsten Jahren Büroflächen frei werden, könnten dort neue Wohnformen entstehen. Gerade im Alter muss nicht jeder alleine leben. Auch möchte Anne gerne dazu beitragen, “die antiquierten Altersbilder zurechtzurücken. Menschen über 60 sind genauso unterschiedlich wie Menschen in jedem anderen Alter auch. Mann kann sie nicht über einen Kamm scheren.“