Zukunfts-Geschichten

Ich liebe das Meer und das Segeln ist für mich eine unerfüllte Sehnsucht. Als ich Rike kennenlernte, war es zunächst denn auch die Blauwasserseglerin, die mich faszinierte. Drei Jahre hat sie mit ihrer Familie auf einem Segelboot gelebt und zweimal den Atlantik überquert. Dabei war Rike die Seefahrt nicht unbedingt in die Wiege gelegt, denn sie wird leicht seekrank. Es war ihr Freund, der das Segeln in die Familie brachte. Rike kam auf Umwegen dazu: „Ich habe ein Buch gelesen, in dem eine schwedische Familie erzählt, wie sie mit ihren beiden schulpflichtigen Kindern ein Jahr lang segeln gegangen sind. Ich war zu diesem Zeitpunkt total desillusioniert von unserem Schulsystem und diese Art von Homeschooling hat mich total gepackt, was die Kinder alles gelernt haben und wie die Familie in dieser Zeit zusammengewachsen ist. Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen und sofort angefangen, nach gebrauchten Booten zu schauen.“ Nach einem „Probe-Segeln“, haben sich Rike und ihre Familie entschieden. Drei Jahre hat es dann noch gedauert, bis sie soweit waren, die Wohnung untervermietet und die Jobs entweder gekündigt oder angepasst hatten. Dann zogen sie auf ein Boot, das sie mittlerweile gekauft hatten. Zweimal haben die den Atlantik überquert. Die Nachtfahrten waren für Rike dabei die größte Herausforderung, vor allem die erste: „Wenn man die Erfahrung macht, dass man nicht rechts ranfahren oder den Anker werfen kann, sondern auf dem offenen Meer ist und die ganze Nacht jemand schauen muss, das war am Anfang total stressig, da hatte ich Nervenflattern und ordentlich Respekt.“ Aber sie hat sich daran gewöhnt und bei einem mehrtägigen Segeltörn von Marokko auf die Kanaren konnte sie dieses lange unterwegs sein dann richtig genießen:  „Wir sind bei Flaute los, deswegen hat es so lange gedauert. Mein System hat sich langsam an die Bewegungen gewöhnen können und ich bin auf dieser Fahrt überhaupt nicht seekrank geworden. Wir hatten schönes Wetter, perfekten Wind und da habe ich gemerkt, ich will gar nicht ankommen. Das ist wahrscheinlich, wie wenn Leute meditieren, es braucht eine Zeit, bis man so einen Zustand erreicht und dann wollte ich den nicht mehr hergeben.“

Wenn alles passieren kann, kann eben alles passieren

Ihr Herzensthema ist die Zukunftsplanung und die Ungewissheit, die damit einhergeht. Ich bin ein „uncertainty enthusiast“, sagt sie mit einem Augenzwinkern. Eine Leidenschaft, die nicht neu ist. Rike hat schon immer gerne spekulative Geschichten und science fiction gelesen:  „Die Ungewissheit, dieses nicht wissen, das hat mich schon immer total angezogen. Auf dem Boot habe ich dann irgendwann angefangen, mich umzuschauen, was es in der Philosophie, Biologie und Geschichte zu diesem Thema gibt. Und dann hat mich das Thema gepackt. Ich möchte anderen eine Tür aufmachen und sie ermuntern eine andere Perspektive auf die Ungewissheit zu entwickeln.“ Ungewissheit, das hat für Rike zu tun mit Offenheit, mit Hingabe und auch mit Demut. Es liegt darin für sie etwas Spielerisches und Kreatives: „Wir stellen uns ein Bein, wenn wir ständig nur unseren eigenen Annahmen über das Jetzt und über die Zukunft glauben, dann werden wir eng. Zukunft ist für mich nicht nur die eine Zukunft, sondern vielmehr „Zukünfte“. Das sind die vielen verschiedenen Möglichkeiten, was alles passieren kann. Wenn man anfängt, das spielerisch zu sehen und zu gestalten, entwickelt man auch eine Art von Selbstwirksamkeit und das ist das, was ich vermitteln und wozu ich ermutigen möchte.“ Man kann die Zukunft nicht vorher sagen, aber wir können sie gestalten, glaubt Rike. Und wenn alles passieren kann, kann eben alles passieren – das lässt viel Raum für viele (Gestaltungs-)Möglichkeiten.

2018 ist Rike mit dem Begriff Ungewissheit rausgegangen und „hat Klinken geputzt“. Sie wollte Organisationen mit Workshops, Beratung, Coaching oder Vorträgen für das Thema Ungewissheit sensibilisieren, aber ohne großen Erfolg. „Das brauchen wir nicht, wir haben alles unter Kontrolle“ war damals die vorherrschende Meinung.“ Corona hat die Ungewissheit dann zum gefragten Thema gemacht. Rike findet diese kollektive Erfahrung der Verunsicherung wichtig, auch wenn sie natürlich nicht schön ist: „Wenn wir nicht einmal die Erfahrung machen, dass wir keinen festen Boden unter den Füßen haben, dann kriegen wir Veränderungen nicht hin. Ein System braucht oft einen Stupser von außen, damit es sich verändern kann.“

Wie sieht eine wünschenswerte Zukunft aus?

Als im März 2020 der lockdown kam, hat Rike zusammen mit der Managementberatung EQU:WIN überlegt, wie man Menschen helfen könnte, aus dieser Schockstarre herauszukommen. Gemeinsam haben sie NxF /navigate by fiction gegründet. Bei EQU:WIN ist Rike auf Kolleg*innen aus der Politik, der Organisationsentwicklung und der Transformationsberatung gestoßen und gemeinsam haben sie auf der Basis von science fiction prototyping einen Transformationsprozess entwickelt, um Menschen, Unternehmen und Organisationen, aber auch Gemeinden und Kommunen zu ermuntern und zu begleiten, Zukunft aktiv zu gestalten. Das science fiction prototyping ist eine offene und kreative Methode, die ursprünglich aus dem Silicon Valley kommt. Dort setzte man sie ein, um mögliche Auswirkungen von zukünftigen Technologien zu erforschen und zu beschreiben, wie soziale Strukturen sich dadurch verändern könnten. Diese möglichen Auswirkungen werden als Geschichten, als science fiction erzählt. Für Unternehmen ist der Ansatz sehr spannend sowohl bei der Definition von Unternehmenszielen, für die Lösung komplexer Fragen oder wenn es darum geht, das kreative Potenzial in einem Unternehmen freizulegen und zu aktivieren.

Unternehmen sind aber nur eine Zielgruppe. „Wofür wir brennen und was wir anstreben ist die Bürgerbeteiligung, wenn es um die Gestaltung der Zukunft geht“. So steht in diesem Jahr die Zusammenarbeit mit einer Kommune an, die im Sommer ein Barcamp* veranstaltet. Im Vorfeld entwickelt NxF /navigate by fiction in den nächsten Monaten mit interessierten Bürgern gemeinsam Zukunftsgeschichten. Dazu bilden die Interessenten Gruppen, die sich dann über vier bis fünf Wochen einmal wöchentlich treffen. In diesem Prozess können spannende Dinge entstehen. So erzählt Rike von einer Gruppe, die das Thema Gesundheit gewählt hatte. Gemeinsam entwickelten sie eine Geschichte über einen 11-jährigen Jungen, der blind ist. Beim Erzählen der Geschichte kam der Teilnehmerin, dass man das ja nicht erwähnen müsse, weil es in der inklusiven und barrierefreien Welt [der Geschichte] kein Thema sei. Für die Teilnehmer*innen der Gruppe war das ein Aha-Erlebnis. Darunter waren auch zwei Lehrerinnen, die daraufhin sofort angefangen haben zu überlegen, was das für den Schulunterricht heißen könnte. Alle Geschichten werden dann im Sommer beim Barcamp vorgestellt und sollen die Basis sein, für weitere Bürgerbeteiligungsprojekte. Denn am Ende stellt sich natürlich die Frage, „was heißt das jetzt für uns? Wie sieht eine wünschenswerte Zukunft aus?“ Alle Zukunfts-Geschichten werden außerdem in der Bibliothek der Zukünfte gesammelt. Für Rike ist es besonders wichtig, „dass die Leute zusammenkommen, lernen miteinander zu kommunizieren und offen zu sein. Wir sind so darauf gepolt, Recht zu haben und unseren Standpunkt zu verteidigen, und wir müssen lernen, die andere Perspektive zu sehen und die Gleichzeitigkeit von Meinungen zuzulassen.“

Dinge nebeneinander stehen lassen können

Die Zukunftsgeschichten berühren die Menschen, sie machen die Dinge emotional erfahrbar, ähnlich wie die Kunst. Wir alle wissen und auch Studien haben gezeigt, dass abstrakte Zahlen und intellektuelles Wissen die Menschen nicht wirklich erreichen und nicht zu Veränderungen führen. Die Zukunftsgeschichten hingegen, so erlebt es Rike, „ziehen die Leute in die Zukunft“ und führen oft zu einer Verhaltensänderung und anderen Ausrichtung in der Gegenwart. Neues kann entstehen, das aber kaum plan- oder steuerbar ist. Hier kommen dann Selbstorganisationsprozesse ins Spiel – Emergenzen. Aber wie lassen sich diese Selbstorganisationsprozesse befördern, wenn sie ja nicht plan- oder steuerbar sind? Um Antworten auf diese Frage zu finden, gibt es das noch junge Institut für praktische Emergenz, das Rike seit Januar leitet.

Die intensive Beschäftigung mit diesem Thema verändert auch Rike. Sie merkt, dass es ihr immer schwerer fällt, von Gewissheiten auszugehen: „Ich weiß soviel nicht und würde gerne viel mehr Sachen nebeneinander stehen lassen können. Ich versuche das in die Sprache einzubinden und sage ‚ich glaube‘, ‚ich habe das Gefühl‘ oder ‚ich bin nicht sicher, dass‘.“ Trotzdem gibt es natürlich auch Themen, zu denen Rike ihre Meinung hat. Dazu gehören die Social Media: „Wir kommunizieren da alle in unserer Filterblase und irgendwann leben wir dann wirklich in unterschiedlichen Realitäten und verstehen uns nicht mehr. Das finde ich gefährlich, wenn Leute nicht mehr miteinander reden können. Das ist definitiv eine Meinung, die ich habe.“

Miteinander im Gespräch sein, sich zuhören und sich verstehen. Das zu vermitteln war schon früher ihre Aufgabe, als sie Unternehmen für deren Zusammenarbeit mit Asien beraten und Workshops für interkulturelle Kommunikation gegeben hat. Doch die Aufgabe war unbefriedigend: „Das war mein großer Schmerz, dass ich gebucht worden bin für etwas, was man so nicht verschreiben kann. Ich kann nicht in einem Tag jemanden interkulturell kompetent machen, indem ich ihm erkläre, was die Dos und Don’ts sind.“ Rike lacht: „Da habe ich auch eine Meinung dazu, das halte ich für einen ziemlichen Schwachsinn.“ Trotzdem hat sie in dieser Zeit viel gelernt und in dem, was sie heute tut, findet sie viele Themen von damals wieder: „Jetzt beschäftige ich mich ja letztlich auch damit, dass wir wohin gehen, wo wir uns nicht auskennen und wo wir etwas nicht verstehen und wo wir uns fragen, was macht das mit mir und wie gehe ich dazu in Beziehung.“

Und wie sieht eine Zukunftsdenkerin die eigene Zukunft? „Hoffnungsvoll“, sagt sie, „und hoffentlich wieder auf dem Boot. Im Moment lehne ich mich zurück und schaue, wie alles an seinen Platz fällt.“

*Ein Barcamp ist eine offene Tagung mit offenen Workshops, deren Inhalte und Ablauf von den Teilnehmern zu Beginn der Tagung selbst entwickelt und im weiteren Verlauf gestaltet werden

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